Rinspeed
Geländewagen werden, nicht nur in Deutschland, immer beliebter und verzeichnen ständig wachsende Zulassungszahlen. Tatsächlich im Gelände bewegt werden die wenigsten, und auch die herausragenden Zuglasten sorgen eher selten dafür, dass ein Pferde- oder Bootsanhänger hinter den Allradlern zu sehen ist. In aller Regel verleihen die Geländewagen ihren Besitzern das begehrte Flair eines fernreisenden Abenteurers, selbst wenn dieser lediglich auf dem Weg ins Büro oder zum Wochenend-Einkauf unterwegs ist.
Doch serienmäßig darf der Allradler nicht bleiben, denn so wie er ab Werk vom Band lief, sieht er ja nun doch ein wenig langweilig aus, zu uniform. Und schließlich lebt eine ganze Zubehörindustrie davon, den Kunden ein breites Angebot zu machen, mit dem sie ihren Wagen individualisieren kann.
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Aber selbst ein aufgemotzter Geländewagen bleibt irgendwie „ein kleiner Fisch“, wenn man ihn mit was „Echtem“, etwas „wirklich Großem“, vergleicht. Wer es wirklich heftig und auffällig haben will, der greift zum X-Trem, der seinem Namen alle Ehre macht.
HEAVY METAL ON THE ROAD
Und völlig gegen den Trend schwimmt, der bei Autos, Zigaretten, alkoholischen Getränken und Nahrungsmitteln immer mehr in Richtung „light“ geht. Es scheint doch Leute geben, die etwas „echtes“ immer noch schön finden, die sich im Überfluß glanzvoller Materie sonnen, oder sonnen wollen. Wobei natürlich zwangsweise die Fragen nach dem „Warum“ auftauchen. Vorab die Antwort: Just for fun. Denn, seien wir ehrlich, wirklich brauchen tut den X-Trem eigentlich niemand. Aber es ist schön, dass es ihn gibt. Weil er so herrlich unvernünftig ist.
Dabei kommt er eigentlich aus dem Mutterland der Vernunft und Rationalität, der Schweiz. Aus einem Land, das für praktische Dinge wie das multifunktionale „Schweizer Messer“ ebenso wie für seriöse Banken bekannt ist. Ein so schräges und verrücktes Automobil wie der X-Trem hätte den als doch eher konservativ geltenden Schweizern kaum jemand zugetraut. Vielleicht ist Frank M. Rinderknecht, Gründer und Chef der Rinspeed AG, da etwas aus der eidgenössischen Art geschlagen. Auf alle Fälle ist er bekannt für seine fast schon obszön-schönen Automobil-Kreationen, die alle ein trauriges Los teilen: Sie werden nie in großen Stückzahlen auf die Straßen kommen und so unser Auge erfreuen. Jeweils zum Jahresbeginn, zum Automobil-Salon in Genf, präsentieren Rinderknecht und seine Mannschaft ein neues automobiles Husarenstück.
Eines davon ist der X-Trem, mit dem Rinderknecht unter anderem eines seiner neuen Produkte, einen Lift für Pick-Ups, promoten will. Rinderknecht fiel auf, dass viele (der stetig an Beliebtheit gewinnenden) Pick-Ups trotz großer Pritsche einen Anhänger ziehen, weil kaum ein Mensch Sportgerät oder Ladegut immer auf die hohen Ladeflächen wuchten will. Also dachte er über eine universelle Ladevorrichtung nach, die dieses Problem löst. Ergebnis des Nachdenkens ist der X-Tra-Lift, mit einem elektrisch oder hydraulisch betriebenen Schwenkarm, der schweres ladegut auf die Pritsche hievt. Verbaut wurde dieser Lift auch im X-Trem.
Und der X-Trem (Nomen est Omen, in diesem Falle ganz sicher) basiert auf einem verlängerten Fahrgestell der Mercedes-Benz M-Klasse. Die hat Rinspeed heftig gelängt. Resultat des Stretchings: Der X-Trem ist annähernd 580 cm lang, beinahe 220 cm breit und gut über zwei Meter hoch. Also auffällig genug und nur schwer zu übersehen, wozu auch die fast schon quietschende zitronengelbe Lackierung beiträgt. Angetrieben wird er von einem V8-Motor, der ebenfalls aus dem Haus mit dem Stern stammt. Aus fünfeinhalb Litern Hubraum holt das kultivierte Antriebsaggregat satte 255 kW, die in der herkömmlichen Lesart als 347 PS eindeutig beeindruckender wirken. Und ebenso beeindruckend loslegen. Denn der X-Trem schafft mühelos eine Spitze satt der 200 km/h-Grenze, versprochen werden 235 km/h. Das für all jene, die es genau wissen wollen. Klar, wirklich brauchen tut eine solche Höchstgeschwindigkeit bei einem offenen Wagen eigentlich niemand. Da ist es beruhigend zu wissen, dass der X-Trem nicht nur flott fährt, sondern auch extrem fix beschleunigt. Der gelbe Bomber langt in dieser Disziplin richtig hin. Schlappe 6,9 Sekunden braucht er von null auf hundert, mit diesem Wert muß er sich selbst hinter leistungsstarken Limousinen absolut nicht verstecken.
Netter Gag am Rande: Der futuristisch-avantgardistische X-Trem mit seinem „Vier-Augen-Gesicht“ transportiert auf seiner Ladefläche eines der kleinsten (einsitzigen) Hovercrafts der Welt, aus japanischer Produktion. Für den – eher unwahrscheinlichen - Fall, dass es mal zu Wasser oder zu Lande mit dem X-Trem nicht weitergehen sollte. Klar, dass das Hovercraft in einem Land mit der höchsten Straßendichte der Welt sicherlich nicht unbedingt von Nöten sein wird, aber eben beruhigend zu wissen, dass man könnte, wenn man denn wollte. Statt Hovercraft lassen sich wahlweise auch Motorräder, Trikes oder Quads als „Beiboot“ mitführen.
ONLINE ON THE ROAD – UND OFF THE ROAD
Zwei elektrisch aus der Motorhaube ausfahrbare Windschutzscheiben sorgen für ein klein wenig Windschutz, damit die beiden Passagiere des X-Trem nicht völlig ungeschützt den Unbillen der Natur ausgesetzt sind. Doch damit nicht genug, der Rinspeed ist auch technisch voll auf der Höhe der Zeit: Ein Bord-Computer steuert – per Touch-Screen bedient – das GPS-Navigationssystem, die Beschallungsanlage (das schlichte Wort Radio wäre an dieser Stelle maßlos untertrieben), außerdem ermöglicht er auch den Versand und Empfang von E-Mail und das Surfen im Internet. Ganz nebenbei steuert der Rechner auch den X-Tra-Lift. Und der ist nicht nur für den X-Trem zu haben, sondern auch für „ganz normale“ Pick-Up’s. Womit klar ist, dass die Allrad-Scene künftig, neben Ramm- und Seitenbügeln, Zusatzscheinwerfern und Seilwinden, ein weiteres Produkt auf ihre Wunschzettel für Weihnachten oder Geburtstage schreiben wird: Den nützlichen Lift aus der Schweiz, passend für „handelsübliche“ Pick-Up‘s. Wer es heftiger und deftiger mag und den (kompletten) X-Trem haben will, wird in der Schweiz sicherlich auch auf offene Ohren stoßen. Voraussetzung dürfte jedoch ein mehr als gut gefülltes Bankkonto sein. Mit einem satt sechsstelligen Betrag dürfen Kaufinteressenten rechnen. Auf alle Fälle ist Rinspeed-Chef Rinderknecht gelungen, was er vorhatte: Ein Automobil zu bauen, „das nicht nur als Pilotprojekt an Ausstellungen präsentiert, sondern auch auf der Straße gefahren werden kann“. Auch wenn es dort auffällt wie eine Abrißbirne auf dem Minigolf-Platz. Wer das zum Erwerb des X-Trem notwendige Kleingeld nicht hat, oder nicht für „nur“ ein Auto plündern will, wird sich weiterhin mit seinem „normalen“ Geländewagen begnügen, und den eben entsprechend aufrüsten und individualisieren. Und wir alle können uns mit dem Gedanken trösten, dass den X-Trem „so richtig“ eigentlich wirklich niemand braucht. Aber es wäre auch verdammt schade, wenn es solche Fahrzeuge nicht (mehr) gäbe.
Quelle: Gerhard Prien