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Fahrzeuge/Sonstiges

35 Jahre Gurtpflicht in Deutschland

Nie "oben ohne"

Darf der Staat seinen „mündigen Bürgern“ hinter dem Lenkrad die Nutzung eines Sicherheitssystems vorschreiben? Diese Frage wird in Deutschland im Jahre 1975 heftig und kontrovers diskutiert. Ein Hamburger Nachrichtenmagazin macht die Gurtpflicht gar zur Titelgeschichte. Trotz aller Proteste und Diskussionen bleibt es bei der Gesetzesänderung. Ab dem 1. Januar 1976 muss in Deutschland auf den Vordersitzen von Personenwagen, also von Fahrer und Beifahrer, der Sicherheitsgurt getragen werden. Im Jahr 1984 kommt auch die Gurtpflicht für Rücksitze.

In den Jahren zuvor haben Unfallversuche eindeutig gezeigt, wie wichtig der Sicherheitsgurt als Rückhaltesystem bei einer Kollision ist. Organisationen wie der ADAC werben 1975 im Vorfeld der Gurtpflicht für das Sicherheitssystem. Aber der Widerstand gegen die Verordnung ist groß. Es geht dabei nicht allein um die technischen Aspekte des Rückhaltesystems, sondern auch – oder vielleicht gerade – um die politische Ebene der Verordnung. Bereits 1976 wird erstmals ein Verwarnungsgeld von 40 Mark für jene Fahrer und Passagiere verhängt, die sich auf den Vordersitzen nicht anschnallen. Zwei Jahre darauf wird auch das Fahren ohne Sicherheitsgurt im Fond mit 40 Mark geahndet.

Bereits ab 1958 ist für den offenen Mercedes-Benz 300 SL (W 198 II) , den die Stuttgarter 1957 auf der Basis des Flügeltür-Coupés von 1955 präsentieren, ein neues Rückhaltesystem zu haben. Der Sicherheitsgurt soll die Insassen des Roadster bei einem Unfall schützen. Dieser Gurt ist – ähnlich wie im Flugzeug – als Beckengurt ausgeführt. Das neue Element der passiven Sicherheit wird 1957 sogar als „Gurt zum Anschnallen, Flugzeugbauart“ angekündigt. Das neue System soll Fahrer und Passagier bei einem Unfall vor allem davor schützen, aus dem Auto geschleudert zu werden. Pro Sitz kostet die Sonderausstattung damals 110 DM. Zum Vergleich: Für ein Radiogerät des Modells Becker Mexiko mit automatischer Antenne müssen die Käufer des Sportwagens zu dieser Zeit als Sonderausstattung 810 Mark bezahlen.

Noch im selben Jahr bietet Mercedes-Benz für alle Personenwagen mit vorderen Einzelsitzen vergleichbare Sicherheitsgurte an. Im Mercedes-Benz 220 S (Baureihe W 180 II) zum Beispiel kostet die Sonderausstattung pro Sitz 120 DM, im Mercedes-Benz 300 d (Baureihe W 189) gar 150 DM pro Sitz. Zu den Kunden, die sich für diese frühen Zweipunkt-Sicherheitsgurte entscheiden, gehört auch Bundeskanzler Konrad Adenauer. Für ihn wird im Fond seines Mercedes-Benz 300 ein Beckengurt eingebaut.

Im Jahre 1959 schreibt der schwedische Automobil-Hersteller Volvo Automobilgeschichte: Am 13. August wird das erste Fahrzeug ausgeliefert, das serienmäßig mit einem Dreipunkt-Sicherheitsgurt, einer Erfindung des Volvo Ingenieurs Nils Bohlin, ausgestattet ist. Es handelt sich um einen Volvo PV 544 („Buckel"). Seither wurden weltweit Millionen Fahrzeuge mit dem Dreipunkt-Gurt ausgestattet, dem bei der Reduzierung schwerer und tödlicher Verkehrsunfälle große Bedeutung zukommt. Auch in Deutschland wird die Erfindung des Volvo Ingenieurs gewürdigt. Das Deutsche Patentamt wählte 1985 den Dreipunkt-Sicherheitsgurt zu einer der acht Erfindungen, die den Menschen in den vergangenen 100 Jahren den größten Nutzen beschert haben.

Eines der frühen Originale des Dreipunkt-Sicherheitsgurts ist seit Sommer 2010 sogar im Smithsonian National Museum of American History in Washington, D.C., zu sehen. Es zählt mit rund vier Millionen Besuchen jährlich zu den bedeutendsten Museen der Welt. Der Weg des Sicherheitsgurtes ins Museum begann 2008 mit einem Telefonanruf. „Der Dreipunkt-Sicherheitsgurt feierte gerade sein 50-jähriges Jubiläum, und zu dieser Zeit gab es bereits Pläne, eine Kollektion innovativer Erfindungen im Bereich automobiler Sicherheit zu präsentieren", sagt Dan Johnston, Product Communications Manager bei Volvo Cars of North America.

Bevor das Museum ein neues Exponat in seine Sammlung aufnimmt, wird dessen Authentizität in einem langen Prozess gründlich untersucht. Der Dreipunkt-Sicherheitsgurt, der zusammen mit dem Originalsitz von Volvo übergeben wurde, stammt aus einem Volvo PV 544 aus dem Jahr 1961. Bei der Echtheitsprüfung verfolgten die Experten die Herkunft zurück bis zum Fahrzeughalter. Darüber hinaus hat Volvo bestätigt, dass das Fahrzeug mit dem Dreipunkt-Gurt hergestellt und ausgeliefert wurde. Diese umfassende Prüfung ist ein Beleg für die große Bedeutung jedes einzelnen Exponats der Museumssammlung. „Heute ist die einfache, aber geniale Erfindung ein integraler Bestandteil der amerikanischen Geschichte", so Dan Johnston.

Ende der 1960-er Jahre setzt sich allmählich der Dreipunkt-Gurt, der Becken- und Schultergurt verbindet, als endgültige Form des Sicherheitsgurtes für Personenwagen durch. Durch eine Aufrollfunktion ergänzt, wird er zum Sicherheits-Automatikgurt. Heute, 35 Jahre nach Einführung der Gurtpflicht in Deutschland, ist der Sicherheitsgurt zum vertrauten Element der passiven Sicherheit geworden.

Quelle: Gerhard Prien